editorial
Have you tried turning it off and on again?
Theater für eine Welt im Schleudergang
Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft
@IMPULSE THEATER FESTIVAL 2023 / AKADEMIE
vom 8.-11. Juni 2023 in Mülheim an der Ruhr
Wie lässt sich erzählen von einer Welt im Wandel, wie überhaupt auf sie reagieren, wenn der Wandel so grundlegend ist und auf so vielen Ebenen gleichzeitig stattfindet, dass Orientierung kaum möglich scheint? Die Grundlagen des (Zusammen-)Lebens verändern sich gerade spürbar und fundamental: ökologisch durch die Klimakrise, die unsere Lebensbedingungen auf den Kopf stellt; politisch durch die gewaltsame Neuordnung der Beziehungen zwischen Staaten und Machtblöcken infolge des russischen Angriffskrieges; und kulturell durch das Zeitalter der digitalen Kommunikation und der Simulation intelligenten Verhaltens durch KI. All dies sind keine vorübergehenden Krisen, sondern bleibende Veränderungen – Epochenbrüche, die ineinandergreifend durch ihre Komplexität überfordern.
Klima, Krieg, KI – Umbrüche im Zeitalter der Komplexität
Was sind die Folgen für die Gesellschaft, in der wir leben und was bedeutet es für die Art, wie wir Theater denken? Was bedeutet es für unser Verständnis von (globalem) Zusammenleben? Wie können wir angesichts der Epochenbrüche Welt neu denken und verhandeln? Wie können wir Perspektiven finden? Welche Rolle spielt die Kunst? Und wo stehen wir überhaupt?
Wir freuen uns sehr, dass wir auf Einladung des Impulse Theater Festivals unsere diesjährige Jahreskonferenz als Akademie des Festivals im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr veranstalten können, um diesen Fragen nachzugehen. Wir haben sie in einem intensiven Austausch entwickelt, und während der Vorbereitungen ist sehr deutlich geworden, dass für uns im Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft wie auch für die Leitung des Impulse Festivals die massive künstlerische Verunsicherung der Theaterschaffenden angesichts der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen mit Händen zu greifen ist. Das gilt in der Freien Szene genauso wie an den Stadt- und Staatstheatern, es gilt auf allen Ebenen des Handelns und des Entstehungs- und Planungsprozesses von Theater (Entwicklung von Produktionen, Antragsstellung in Fördersystemen, Auswahlkriterien für Festivals, Neuausrichtung von Häusern und Neustarts von Intendanzen, verändertes Zuschauer*innenverhalten): Wie einen Ausdruck finden, was durch wen erzählen, wie mit der Ohnmacht umgehen, nach welchen Maßstäben Entscheidungen treffen?
Der Kulturwissenschaftler Felix Stalder hat darauf hingewiesen, dass wir (und das heißt in diesem Kontext eben auch: die Kulturinstitutionen und Theaterschaffenden) den ohnehin schon enormen Anstieg an Komplexität im Zeitalter der digitalen Kommunikation nicht bewältigen können, weil sich unsere kulturellen Fähigkeiten, die Vielfalt sinnvoll zu repräsentieren und angemessene Formen der Verhandlung zu finden, nicht hinreichend schnell mit entwickeln; die Folgen seien: Chaos und Überforderung.
Wie sind andere Gesellschaften in anderen Zeiten mit existentiellen Krisen umgegangen? Nach dem Impuls von Felix Stalder zu Beginn der Konferenz wird Dániel Kondor vom Complexity Science Hub aus Wien datenbasiert quer durch die Menschheitsgeschichte strukturelle Gemeinsamkeiten von Gesellschaften in Krisen analysieren.
Denn die Frage, die uns während dieser Konferenz leitet, lautet: Wenn Orientierung schwierig ist – wie können wir Situationen schaffen, unter denen sie entstehen kann? Wie können wir mögliche Perspektiven finden, die weiterhelfen, oder zumindest den Raum aufmachen für sinnvolle Fragen? Wir haben Menschen, deren Perspektiven uns hilfreich erscheinen, eingeladen, in ihren Impulsen einige Aspekte der Key-Nöte unserer Zeit aufzugreifen. Im Anschluss versammeln wir uns jeweils in kleinen Runden in Tischgesprächen, in denen unterschiedliche Expert*innen vertieft mit Euch ins Gespräch kommen wollen – denn das ist eine der wesentlichen Pandemie-Erfahrungen: Gerade in kleinen Runden entstehen häufig produktive Impulse, gute Fragen, ein besserer und weiterbringender Austausch, und, auch das: Mehr Menschen kommen leichter zu Wort.
Eine gute Atmosphäre ist für einen produktiven Austausch wichtig und hilfreich, wäre allein aber nicht ausreichend. Es wird auch schmerzhaft. Die Analysen der Politik des sogenannten Westens durch Vasyl Cherepanyn sind so scharf wie treffend – im zweiten Themencluster des Eröffnungstages untersucht der Leiter des Visual Culture Research Center Kyiv und der Kyiv Biennale den Krieg Russlands gegen die Ukraine in europäischer Perspektive. Die Historikerin Elżbieta Korolczuk, zugeschaltet per Video, wird anschließend über die oft unterschätzte Bedeutung des kulturellen Kriegs für den tatsächlichen Krieg sprechen. Moderieren wird diese beiden Impulse und das anschließende Gespräch Maxi Obexer, die schon 2017 mit dem internationalen Dramatiker*innenlabor „Krieg im Frieden“ am Maxim Gorki Theater einen sprachen- und länderübergreifenden Schreib-, Reflexions- und Entwicklungsraum geschaffen hatte, um sich mit den komplexen Gemengelagen von Frieden und Krieg, gesellschaftlichen Konflikten und gezielt eingesetztem Hass auseinanderzusetzen, gerade auch im Hinblick auf die Situation in der Ukraine.
Reboot?
Es ist kein Zufall, dass wir damit einen Bogen zurück schlagen zur Greifswalder Konferenz von 2018, bei der Obexer gefordert hatte, „Europa von den Rändern her“ zu denken; die sich stetig verschärfende Auseinandersetzung zwischen offenen, liberalen Gesellschaftsentwürfen und autoritären Ansätzen hat die Konferenzen der Dramaturgischen Gesellschaft spätestens seit Greifswald geprägt. So knüpft auch der folgende Themencluster zur Zukunft der Mobilität nahtlos an eine frühere Konferenz zum Politischen Handeln an: 2016 hatte das Gespräch zwischen Ingolfur Blühdorn und Nikita Dhawan mit der gemeinsamen Erkenntnis geendet, man müsse „die Aufklärung vor den Europäern“ retten – sieben Jahre später greift Dhawan diesen Gedanken auf, um über die Zukunft von Migration und europäische Ethik zu sprechen.
Aus New York zugeschaltet, wird sich Jason Moore im vierten Cluster einer weiteren der entscheidenden Key-Nöte unserer Zeit zuwenden und über Nachhaltigkeit und Klimakrise reden, bevor wir uns mit zahlreichen weiteren Expert*innen in Tischgespräche begeben. Und am Sonntag beenden wir die Tagung mit der Mitgliederversammlung und dem Re-Boot-Camp, wo wir die gewonnen Fragen und Erkenntnisse aus den Vortagen sammeln und in kleinen Gesprächsrunden Handlungsperspektiven für die künftige Theaterarbeit entwickeln wollen.
Intime Räume und die Grenzen der KI: Konferenz-Installationen im Eins-zu-Eins-Format
Als Kontrast zu den vielen Gesprächsrunden haben wir konferenzbegleitend drei spektakuläre Installationen eingeladen, die alle als 1:1-Formate konzipiert sind: Luis Krawens so eindrucksvolle wie erschreckende 20-minütige Videoinstallation THE SHIRE verbindet zwei der thematischen Cluster, indem sie deutlich vor Augen führt, was KI-überwachte Grenzen nicht nur für die Zukunft, sondern auch schon die Gegenwart der Mobilität bedeuten – und was das Ganze mit dem Herrn der Ringe und der Alt-Right-Bewegung in den USA zu tun hat.
ChatGPT in Aktion kann man in der Installation ANA erleben – der theatrale Geschichtenautomat ist darauf spezialisiert, in einem dialogischen Vorgang mit einer einzelnen Person neue Geschichten zu erfinden. Wir freuen uns, ANA exklusiv als Preview vor der offiziellen Premiere zeigen zu können. Sowohl Krawen als auch die Macher von ANA, Ilja Mirsky, Meredith Thomas und Leonid Berov, bieten auch thematisch verwandte Tischgespräche an.
Im Gegensatz zu diesen durchlaufenden Digitalen Formaten setzt die Künstlerin Zoe Gudović auf direkte 1:1-Begegnung und verwandelt eine Toilette im Ringlokschuppen zu ihrem temporären Wohnzimmer, einen Raum für Begegnung und geschützte Kommunikation. Toiletten sind Räume, in denen wir uns isoliert und zugleich frei fühlen, Räume der Intimität, der Reflexion und der Befreiung. In ihrer Mischung aus öffentlich und privat genau der richtige Rahmen, um auf die Beschäftigung mit gewaltvollen Umbrüchen mit einem Gegen-Narrativ zu antworten.
Shuttlen & Feiern: Die Konferenz und der Showcase
Die Konferenz findet auf Einladung von Impulse als die Akademie #1 des Festivals statt. Eine Besonderheit des Impulse Theater Festivals ist, dass es rotierend an drei Orten stattfindet: Die Akademien dieses Jahr in Mülheim, der Showcase in Düsseldorf und ein Stadtprojekt von Turbo Pascal in Köln. Für die Konferenz bedeutet das, dass alle Formate schon um 17.00 Uhr enden, damit ausreichend Zeit bleibt, zu den Vorstellungen zu fahren. Wir stellen gemeinsam mit dem Impulse Festival einen Shuttle per Bus zu den Aufführungen zur Verfügung, die Fahrt nach Düsseldorf per öffentlicher Verkehrsmittel ist aber ebenso einfach und möglich.
Die Fahrt zurück nach den Vorstellungen erfolgt ohnehin individuell mit öffentlichem Nahverkehr, denn – und auch das ist neu für eine DG-Jahreskonferenz: Hier endet wirklich jeder Abend mit einer Party!
Karten sichern!
Wichtig ist, sich rechtzeitig – am besten sofort – Karten zu sichern. Es sind ausreichend Plätze vorhanden, aber die Buchung der jeweils gewünschten Vorstellungen müsst Ihr individuell vornehmen, und erfahrungsgemäß werden die Karten kurz vor Beginn des Festivals knapp.
Das gilt insbesondere für den Anreisetag: Der Donnerstagabend ist zugleich der Eröffnungsabend des Impulse Theater Festivals. Deshalb besteht daraus auch das Programm dieses Abends: Wir schauen die großartige Eröffnunginszenierung „JUSTITIA! Identity Cases“, eine rasante Show, in der die vier Aktivist*innen Müller/Gurrola/Diallo/Selimović im FFT Düsseldorf nach den Vorteilen fragen, einer diskriminierten Gruppe anzugehören, und was dabei im Theater auf dem Spiel steht. Im Anschluss verwandeln sich Noushin Redjaian und Sandra Selimović von „JUSTITIA! Identity Cases“ in DJ Noushin und Mindj Panther und wir feiern gemeinsam Open End. An diesem Abend wird der Andrang groß – wir empfehlen schnelle Buchung, und freuen uns, Euch an unserem Begrüßungs-Tisch zu treffen.
Gerne weisen wir darauf hin, dass sich die Anreise zum Donnerstagabend in Mülheim übrigens wunderbar verbinden lässt mit dem öffentlichen Teil der Konferenz „Zukunft Theater“ in Bonn tagsüber.
Auch der Freitag endet mit der „Open End“-Party, an einem geheimen Ort in Düsseldorf, der während des Festivals bekannt gegeben wird: subbotnik wartet mit einem musikalischen Live-Act auf, während Rotterdam Presenta inmitten einer Baustelle ihre Gravity Bar eröffnen und Drinks und Tunes aus allen Gemütsregionen servieren.
Mit niemandem verbindet uns eine so lange Zusammenarbeit wie mit dem Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage – auch bei diesem Festival finden die Autor*innen- und Komponist*innenbegegnungen statt, diesmal als Teil der thematischen Tischgespräche. Und am Samstag lädt der Verleger*innenverband traditionell ein – diesmal ins Theatermuseum in Düsseldorf. Die Feier geht nahtlos über in das „Open End“ des Impulse-Festivals mit Çakey Brünett: Dauergäste beim Impulse Festival, die eine Drama-Party schmeißen.
Wir danken dem Impulse Theater Festival und seinem Leiter Haiko Pfost und seinen Mitarbeitenden, insbesondere Susanne Berthold für die Produktion der Akademie, für ihre so herzliche wie großzügige Einladung und freuen uns über diesen verstärkten Austausch und die Kooperation mit dem wichtigsten Festival der Freien Szene, und wir danken dem gesamten Team des gastgebenden Hauses für zeitgenössisches Theater, Performance und Tanz, dem Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim an der Ruhr, und insbesondere dem bisherigen Leiter, Matthias Frense, und der neuen Leiterin, Daniele G. Daude für ihre herzliche Aufnahme, sowie dem Team um Adam Coupland für die technische Begleitung.
Das Impulse Theater Festival 2023 wird veranstaltet vom NRW KULTURsekretariat in Kooperation mit dem FFT Düsseldorf, der studiobühneköln und dem Ringlokschuppen Ruhr sowie den Städten Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr.
Das Festival wird gefördert durch die Kunststiftung NRW, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und die Beauftragte für Kultur und Medien und anderen.
Wir danken außerdem dem Förderprogramm KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, Teil des Förderprogramms NEUSTART KULTUR, das aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der Länder bereitgestellt wurde.
Kontinuität und Veränderung
In der Vorbereitung dieser Konferenz haben wir auch diesmal den Vorstand verstärkt: Mit der Berufung Dorothea Hartmanns auf die Intendanz nach Wiesbaden und der dadurch eingeschränkten Kapazität für dieses zeitaufwendige Ehrenamt war es notwendig, jemanden dazu zu holen, der in ähnlich profilierter Weise für Musiktheater steht, und wir freuen uns sehr, dass Michael von zur Mühlen als kooptiertes Vorstandsmitglied diese Konferenz mit unterstützt hat. Der Vorstand der dg lebt von ständiger Erneuerung, idealerweise halten sich Kontinuität und Veränderung die Waage: Wie bei der letzten Vorstandswahl werden auch dieses Jahr zwei Mitglieder ausscheiden und neuen Menschen mit neuen Perspektiven Platz machen. Wir freuen uns, Euch in Mülheim zu sehen und mit Euch gemeinsam Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen.
Der Vorstand der DG:
Kathrin Bieligk (Stellv. Vorsitzende), Kerstin Grübmeyer, Dorothea Hartmann, Esther Holland-Merten, Jasmin Maghames, Beata Anna Schmutz, Harald Wolff (Vorsitzender)
mit Michael von zur Mühlen
und Raffaela Phannavong (Leitung der Geschäftsstelle) und Jana Thiele (Geschäftsführerin)